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Ich will aber nicht abschweifen: Ich bin am 6. Mai 1936 in Strausberg, Kreis Oberbarnim, geboren. Heute gibt es diesen Kreis nicht mehr. Heute liegt Strausberg zwar immer noch an derselben Stelle am Straussee, aber im Landkreis Märkisch-Oderland. Übrigens: Strausberg ist so mit einem „s“ richtig geschrieben. Der Name hat nämlich ursprünglich nichts mit dem Vogel Strauß zu tun, obgleich die Stadt diesen Vogel im Wappen trägt. Strausberg heißt so nach dem gleichnamigen Straussee, und der hat seinen Namen aus der slawischen Vergangenheit, aus dem Wort „strutz“, weil dieser See die Form einer Schote hat.

Jetzt schweife ich aber schon wieder ab. Also zurück zu mir: Bis zu unserer Flucht vor den heranrückenden russischen Armeen im April 1945 bin ich in Strausberg bei meiner Mutter und in Bollersdorf bei meinen Großeltern aufgewachsen. Bei „meiner Mutter“ steht zu Recht dort, denn meine Mutter lebte mit ihren schließlich fünf Kindern allein in Strausberg. Mein Vater wurde im Jahr 1939 zu einer kurzen Wehrübung eingezogen und stieß dann mit kurzen Urlaubsunterbrechungen 1947 wieder zu seiner Familie, dann aber nicht mehr in Strausberg, sondern in Berkenthin. Das ist ein Dorf in Schleswig-Holstein in der Nähe von Ratzeburg. Wem Ratzeburg nicht durch den berühmten Ruderachter von Karl Adam bekannt ist, der bekommt einen weiteren geographischen Hinweis. Ratzeburg liegt in der Nähe von Lübeck. Mehr Hinweise gibt’s aber nicht, denn Lübeck kennen alle, zumindest wegen seines berühmten Marzipans, wenn nicht deswegen, weil Lübeck mal eine bedeutende Hansestadt war.

Wenn ich in diesem Stil weiter aus meinem Leben erzähle, dann wird das eine sehr lange Geschichte. Also jetzt in Kürze: In Strausberg bin ich seit 1942 zur Schule gegangen, zur Volksschule, d.h. am Anfang regelmäßig, dann immer seltener und zum Schluss gar nicht mehr. Das hing mit der Entwicklung des Krieges zusammen. Je häufiger die deutschen Truppen Frontbegradigungen vornahmen, d.h. im Klartext sich langsam und dann immer schneller auf den Rückzug begaben, desto näher rückte die Front und desto mehr wurde unser tägliches Leben davon beeinträchtigt. Da ich darüber aber ein Buch geschrieben habe, mag diese Mitteilung hier genügen. Eines Tages war die Front so nahe gerückt, dass wir die Flucht antraten und nach abenteuerlichen und gefährlichen Wochen schließlich im Westen, in dem schon genannten Berkenthin landeten. Hier wurden wir dann wieder eingeschult, und zwar nicht -wie wir gewohnt waren- in eine entsprechende Klasse, sondern in eine Jahrgangsstufe, denn in Berkenthin gab es damals nur eine zweiklassige Dorfschule. Da sich aber alle Eltern bzw. Mütter, denn viele Väter waren noch nicht wieder „zu Hause“, viele kamen überhaupt nicht wieder, alle Lehrerinnen und Lehrer und auch alle Schülerinnen und Schüler Mühe gaben, klappte die Schule großartig. Wer zur Oberschule weiter wollte, bekam einen extra vorbereitenden Unterricht. So waren uns die lateinischen Ausdrücke für die deutsche Grammatik geläufig, als wir dann 1947 zu einer zweitägigen Aufnahmeprüfung nach Ratzeburg in die Lauenburgische Gelehrtenschule „fuhren“. Das Wort „fuhren“ ist absichtlich in Anführungszeichen gesetzt, denn wir fuhren nicht. Womit auch? Die Reichsbahn, spätere Bundesbahn und heutige Bahn AG suchte erst ihre übrig gebliebenen und noch einsetzbaren Personenwaggons zusammen, und an Busse war überhaupt noch nicht zu denken. Also marschierten wir rund zehn Kilometer hin und nach dem ersten Tag der Prüfung wieder zehn Kilometer zurück. Und am nächsten Tag noch mal dasselbe.
Wir haben die Prüfung bestanden: Drei Jungs aus Danzig, zwei aus Thüringen, einer aus Brandenburg (das war ich) und ein Einheimischer. Und dann begann unsere neunjährige Schulzeit auf dem Ratzeburger Gymnasium, zunächst zu Fuß (siehe oben), dann mit der Bahn (morgens um 7.00 Uhr Abfahrt, abends um 18.00 Uhr Rückkehr), dann mit dem Bus (zeitnäher und von Haus zu Haus).

Als wir dann nach Mölln umgezogen waren (mein Vater fand nach entsprechender Entnazifizierung eine Anstellung als Lehrer an der dortigen Berufsschule), waren wir fast wieder in der Realität angekommen und besuchten die restlichen Schuljahre als ganz normale Fahrschüler. Mölln, die Stadt muss ich nicht vorstellen; jeder kennt zumindest ihren Namen: Dort ist Till Eulenspiegel „aufrecht“ begraben. Wieso aufrecht? Also … selber nachschauen!
1956 habe ich dann das Abitur bestanden (ein Jahr später als normal, das lag an der längeren Volksschulzeit und war dem Krieg geschuldet).
Vor einigen Jahren erhielten wir unsere Abiturarbeiten zurück. Ich habe mich selten so geschämt und bin noch heute meinen Lehrern dankbar, dass sie mich haben bestehen lassen. Mein Mut war aber größer als meine Scham: Ich habe die Arbeiten aufbewahrt!

Ich habe bis heute nicht begriffen, wie ich mit solchen schulischen Leistungen dann ein recht ordentliches Studium (Geschichte und Latein) und schließlich eine mehr als passable Promotion (in Latein) hinbekommen habe. Letztere habe ich ganz alleine geschrieben und ordentlich alle textlichen „Entleihungen“ als solche gekennzeichnet, worauf ich angesichts der heutigen Plagiatoren aus politischen Kreisen richtig stolz bin.

Mein Studium war auf das höhere Lehramt ausgerichtet: Ich wollte eigentlich Studienrat werden. Daraus wurde allerdings nichts. Ich hatte während meiner Schulzeit und dann während des Studiums Theater gespielt und Kabarett gemacht. Nach meiner ersten Prüfung für das Lehramt, war unsere Gruppe zu einer Kabarettvorstellung in der Grenzakademie Sankelmark (ganz oben in Schleswig-Holstein) eingeladen. Wir spielten und nahmen uns unter anderem die Schul- und Kulturpolitik des Landes Schleswig-Holstein vor. Das mochte der Staatssekretär des zuständigen Ministeriums, der unter den Gästen weilte, nun gar nicht, erkundigte sich nach meinem Namen und ließ verlauten, dass dieser junge Mann in seinem Land keine Anstellung finden werde (wörtlich „kein Bein an die Erde kriegen wird“).

Daher wechselte ich nicht das Land, sondern mein Berufsziel und ging nicht in die Schule, sondern in die soziale Arbeit. Das klingt ziemlich einfach, war aber äußerst schwierig und mühevoll. Zum Auftakt meiner beruflichen Tätigkeit nahm ich an einer mehrtägigen Mitgliederversammlung am Jugendhof Steinkimmen teil. Steinkimmen gehört zu Ganderkesee, das liegt in … Geben Sie einfach das Stichwort bei Google ein, und schon sind Sie da. Also auf dieser Mitgliederversammlung war ich plötzlich mit Themen konfrontiert, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, und mit Diskussionen über Jugendproteste und –demonstrationen und außerschulische Jugendarbeit, die an mir vorbeigegangen waren, und mit Namen wie Max Weber, Adorno, Habermas, von denen ich keine Ahnung hatte. Diese Ahnungslosigkeit fiel aber nicht nur mir auf, sonst hätte ich wohl geschwiegen, sondern auch einem der vortragenden Professoren, der mich auf meine Wortlosigkeit angesichts der lebhaften Diskussionen ansprach und mir die Frage stellte, was ich hier eigentlich wolle: „Sie haben doch einen Dr.! Was haben Sie denn bisher bloß gemacht?“ Ich erzählte von meinem Studium, und als er mehr wissen wollte, redete ich von Konjekturen, von Interlinearglossen, von Stemmata und Ähnlichem. Er verstand kein Wort, und sein Interesse an mir erlosch sehr bald.

So peinlich mir diese Scene bis heute in Erinnerung geblieben ist, er hat mir ungewollt sehr geholfen. Ich merkte plötzlich, dass auch ich über ein Wissen und ein Fachvokabular verfügte, das nicht Eingeweihten fremd war. Das hat mir den Mut gegeben, mich mit Soziologie und Psychologie und ihren Autoren intensiv zu beschäftigen und später mit ökonomischen Themen, mit Haushaltsplanung und –überwachung, mit der Sozialgesetzgebung, mit Personalführung und vielem mehr, so dass während meines gesamten beruflichen Lebens niemand mehr auf die Idee kam, es mit jemandem zu tun zu haben, der nicht vom gerade benötigten Fach war.

In diesem beruflichen Leben war ich dann zunächst Heimleiter, allerdings in einer sehr interessanten Einrichtung. Wir haben zusammen mit der Cuno- Berufsschule in Hagen (mit Erfolg) Spätaussiedler und DDR-Flüchtlinge in unser Ausbildungssystem integriert und ihnen gute Starthilfen in ihr neues Leben gegeben.

Dann machte ich langsam „Karriere“ und landete über den Landesbeauftragten und den Landesgeschäftsführer schließlich beim Regionalgeschäftsführer im Internationalen Bund für die Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Ich war vom ersten Tag der neuen DDR und dann seit der Wiedervereinigung in den beiden Ländern mit am Aufbau und Umbau beteiligt: Eine ungemein aufregende, interessante und wichtige Zeit in meinem Leben.

Zwischendurch war ich längere Zeit beim Deutschen Roten Kreuz als Referatsleiter und Leiter der Bundesschule dieser Organisation tätig. Dort hatte ich die Gelegenheit, mich unter anderem sehr intensiv mit der Ausbildung von ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitern und Führungskräften zu beschäftigen und mir mein dazu benötigtes Wissen durch Vorlesungen der TH Aachen anzueignen.

Alle meine jeweiligen Vorgesetzten haben mich frei und selbständig arbeiten und meinen Aufgaben- und Geschäftsbereich gestalten lassen, wie ich es für richtig hielt. Ich habe niemals eine Anweisung erhalten. Man hat mich machen lassen, und ich denke, alle waren zufrieden. Ich war`s jedenfalls.
Obgleich ich in meinen verschiedenen beruflichen Positionen eigentlich mehr die Arbeitgeberseite zu vertreten hatte, war ich über zwölf Jahre auch im Betriebsrat tätig, eine lange Zeit sogar als Vorsitzender. Kollegen aus der Ferne hielten diese Kombination für grenzwertig. Kollegen aus der Nähe waren sehr zufrieden mit meiner Arbeit.

Es ließ sich nicht vermeiden, dass ich die eine oder andere ehrenamtliche Position einnehmen durfte, so zum Beispiel in der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege, in der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk, die es –glaube ich- gar nicht mehr gibt, im Arbeitskreis Deutscher Bildungsstätten und viele Jahre als Vorsitzender der AGJ, der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe.

Mein gesamtes Berufsleben war außerordentlich reich an Abwechslungen, vielgestaltig, herausfordernd, zeitaufwendig (Wochenenden gab es in den letzten Jahren kaum noch; hin und wieder habe ich dann am Mittwoch Sonntag gemacht), aber ich habe dieses Leben genossen.
Dann kam im Mai 2001 der Tag des Abschieds von diesen spannenden Jahren; ich hätte gern noch weiter gearbeitet, aber der Tarifvertrag ließ das nicht zu. Ich war dann noch einige Jahre beratend für verschiedene Firmen tätig, bis meine Verbindungen in die Erwerbswelt so dünn wurden, dass ich kaum noch helfen konnte, und daraus die Konsequenzen und mich ins Privatleben zurückzog und zu schreiben begann. Was, finden Sie auf der nächsten Seite.
So, jetzt bin ich bei Heute angekommen und sollte doch noch ein paar private Worte verlieren: Ich bin verheiratet –und weil mir das so gut gefällt: zum zweiten Mal; aber dieses zweite Mal auch schon seit fast dreißig Jahren.

Ich habe drei Kinder (zwei Töchter und einen Sohn), die meine Frauen (natürlich nacheinander) und ich (in dieser Reihenfolge) erzogen haben. Die Kinder haben sich ordentlich revanchiert, sich sehr bald selbst und später dann ihre Eltern erzogen.
Den Kindern (jedenfalls zwei von ihnen) verdanken wir drei Enkel (zwei -innen und einen –el) Als ich diese Zeilen meiner Frau zur kritischen Korrektur vorlese, macht sie mich darauf aufmerksam, dass wir noch einen Enkel haben, einen geerbten, der dazu gestoßen ist, als meine jüngere Tochter einen Mann mit bereits erstelltem Sohn heiratete.

Der Vollständigkeit halber sei angemerkt: Seit meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr wohnen Hunde bei uns: mal zwei, mal weniger. Zurzeit liegt Whitey, eine Mischlingshündin, die drei Jahre in Rumänien auf der Straße gelebt hatte, neben mir breit ausgestreckt in der Sonne und genießt ihr Hundeleben.

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